Donnerstag, 20. Juni 2013

Sgt. Peters und die Sonne


Bei dem Geruch musste er spielen gehen. Wenn die Sonne auf den Asphalt schien und es pulvrig und warm in die Nase stieg. Die Sonne vergrößert alles. Sie macht aus Steinen Landschaften, aus Pfützen Meere, aus Moos einen Dschungel für Sergeant Peters. Er war genau ein Jahr zu alt, um so zu spielen. Vor einem Jahr hatten seine Freunde aufgehört, am Boden liegend Figuren zu verschieben, Spucke zu versprühen, wenn sie die Geräusche von Explosionen imitierten, mit verstellter Stimme Befehle zu bellen und einen ewigen Krieg zu führen. Aber heute war ihm das egal. Heute war Sonne. 
Franz holte sein Rad aus der Garage.
„Ich geh spielen“, rief er und stemmte sich in die Pedale, bevor ein Spruch seiner Mutter ihn erreichen konnte. Sie würde lachen, genau wie seine Freunde, wenn sie wüsste, dass er Sergeant Peters und die anderen in der Hosentasche hatte. Aber bei diesem Wetter! Der Frühling weckte das Abenteuer. Wenn die Sonne die Räume dehnte, wenn der Schall wuchs und das Zwitschern der Vögel klarer in der Luft stand als sonst, wenn sich das Hämmern im Nachbargarten mit gemeißeltem Nachhall durch die warme Luft bohrte, dann drängte sich auch die Stimme von Sergeant Peters in Franz Fantasie. 
Er fuhr zum Steinbruch. Da ging man hin, wenn man allein sein wollte. Franz wusste, dass Horst dort rauchte, mit seinen Freunden. Aber heute arbeitete Horst, heute konnte man dort ungestört spielen. Auf einem Teppich aus Wärme, Blütenfarbe, gemähtem Gras und Zugluft radelte er an den Vorgärten vorbei. Über die Felder. Durch den Wald. Und zum Steinbruch. Er versuchte eine Vollbremsung im Schotter. Staub wirbelte in eine aufgeschürfte Wade. Franz sah sich um, beschämt. Aber niemand war da.
Er fand schnell eine Stelle im prallen Sonnenlicht, wo die Soldaten lagern konnten. Zwölf Männer aus grünem Plastik, zweimarkstückgroß. Und Sergeant Peters, als einziger in der Farbe von Sand. Wie der brüchige Fels des Steinbruchs. Das Dutzend plus Einen, wie sie sich nannten, hatte Stellung bezogen in einem Spalt. Er klaffte nach hinten in eine dunkle und unerforschte Höhle. Am Rand Vegetation. Hier war meterhohes Gras, scharf wie Macheten. Peters zwang George, einen Weg hindurch zu schlagen, damit sie einen Fluchtweg hatten. George kam verletzt zurück, vom Gras geschnitten. Natürlich konnte der Sergeant die Wunde verbinden und George blieb einsatzbereit. 
„Die Höhle erforschen wir später“, sagte Peters. „Zunächst müssen wir herausfinden, wo der Feind ist.“ Er teilte die Mannschaft in drei Gruppen ein. Eine bewachte das Lager, zwei schwärmten aus. Peters ging alleine, in die Richtung, wo der Feind am ehesten war. Er wusste, dass er die besten Chancen hatte, unentdeckt zu bleiben, wenn er die anderen zurück ließ. Keiner konnte schleichen wie er. 
Etwas krachte. Franz erschrak. Er sah sich um und sah niemanden. Auch dieses Geräusch wurde von der Sonne vergrößert und schien ihm noch immer nachzuhallen, in der warmen Stille. Wahrscheinlich wurde im Wald oben gearbeitet. 
Sergeant Peters hatte die Explosion gehört. Die sprengten etwas. Es gab zwei Möglichkeiten. Entweder sie suchten nach Gold oder sie versuchten, die Höhle zum Einsturz zu bringen, vor der die Zwölf plus Einen lagerten. Rasch kehrte er um. Die zurückgebliebenen Männer waren in heller Aufregung. Auch sie hatten den Krach vernommen.
„Wenn sie die Höhle sprengen wollen, müssen sie sich an einem anderen Zugang dazu befinden“, erklärte der Sergeant. „Das heißt, dass wir ihnen zuvor kommen können. Wir sprengen selbst. Wenn die Höhle von hier aus zusammenbricht, reißt sie vielleicht unseren Feind in den Tod.“ Und sie platzierten ihr Dynamit und die Fernzünder. Es war gefährlich, denn sie konnten einen Erdrutsch auslösen, der sie mitriss. Peters ging das Risiko ein. Wenn sie den Feind damit erwischten, war es das wert. Das Dynamit war extrem stark. Das Donnern der Explosionen ließ die Ohren klingeln. Wieder und wieder krachten Teile der Höhle zusammen, größer und größer wurde die Verheerung. 
„Was machst du da?“
Franz fuhr herum. Den Stock, mit dem er die Felsspalte bearbeitet hatte, warf er fort. „Nichts.“
Ein Mädchen stand ihm gegenüber. Die dunklen Haare voller Staub. Auf den schmutzigen Händen Spuren von Rinnsalen, wo Wasser oder Schweiß gelaufen war. Wie die Gänge von Holzwürmern in verwittertem Holz. Sie trug ein blau-weiß gestreiftes T-Shirt. 
„Du machst den Berg kaputt.“
„Sergeant Peters sprengt die Höhle. Das muss so.“
„Und wenn der Steinbruch zusammenkracht?“
„Quatsch. Den kriege ich nicht kaputt.“
„Wer ist Sergeant Peters?“
Franz zeigte ihr seine Soldaten. Sie setzten sich nebeneinander in den Schotter, die Rücken an die steile Wand des Steinbruchs gelehnt.
„Wieso hat der da keinen Kopf?“, fragte sie. 
„Er hat ihn in einer Schlacht verloren. Aber Peters hat seinen Körper gerettet. John kann nicht mehr denken, aber er kann noch Befehle befolgen.“
„Wie mein Bruder.“
„Wie heißt du?“
„Margit.“
„Was machst du hier?“
Margit stand auf und holte den Stock, den Franz fortgeworfen hatte. Sie fing an, in der Höhle zu stochern, wie vorher Franz.
„Ich dachte, dann bricht der Steinbruch zusammen“, sagte Franz.
„Soll er doch.“
„Und wir?“
„Mir egal.“ 
Franz holte einen zweiten Stock und half ihr. Sie hackten und bohrten und stocherten, bis das Loch groß genug für einen Hasen war. Franz sah jetzt auch auf seinen eigenen Händen Striemen von Schweiß im Staub. 
„Was kommt da rein?“, fragte Franz.
„Wir. Unsere Leichen.“
„Quatsch.“
„Manchmal wär ich gerne tot“, sagte Margit. 
Franz nahm sie in den Arm. Sie brauchte Trost. Der Geruch von Metall und Staub stieg aus ihren Haaren. Von der harten Arbeit und der Sonne war ihre Haut heiß. Franz dachte an eine Motorhaube nach langer Fahrt. 
„Wir müssen in den Schatten gehen“, sagte er. „Hast du hier überhaupt was zu trinken?“ Er hatte selbst nichts mitgenommen. Sie schüttelte den Kopf. „Wie lange bist du denn schon hier?“, fragte er.
„Seit gestern.“
„Wo hast du geschlafen?“
Sie zeigte auf eine verfallene Hütte, die zum Steinbruch gehörte. 
„Hast du ein Fahrrad?“ 
Wieder schüttelte sie mit dem Kopf.
„Kannst auf meinem Gepäckträger fahren.“
Sie fuhren zu ihm nach Hause. Seine Mutter war einkaufen. Er versorgte Margit mit Orangenlimonade aus dem Kühlschrank. 
„Du musst was Kühles trinken“, sagte er. „Du bist überhitzt.“ Er fühlte sich wie der Sergeant. Er rettete die Entführte. Er versorgte ein Opfer des Krieges.
Sie saßen in der Hollywoodschaukel und ließen die Beine baumeln. Wieder machte die Sonne das Leben groß und bedeutsam und Margits Hand in seiner war eine Welt. Da war ein spitzer Dorn am Rand ihres Zeigefingernagels. Da war eine Schicht aus trockener Erde auf dem Handrücken, die sich krümelnd verabschiedete, wenn Franz mit seinen Fingern darüber strich. Da war ein warmer Dunst innen, der sich in den Linien beider Handflächen - ihrer und seiner - verfing. Glatt wie Marmor aber warm wie ein Mund waren die Seitenränder ihrer Finger, die sich an die Seitenrändern seiner Finger schmiegten. 
Er wollte sie küssen. Der Gedanke war wie ein Schreck. Eben noch hatten sie gespielt. Und auf einmal ging es um Liebe. Sein Magen aus Eis. Sich trauen. Sie küssen. Noch wartete er. Gleich aber. Ein Kuss. Ein Schleier, wie kalte Milch, in seinem Bauch und in seinem Verstand. Ich werde dich küssen, formte sein Geist die Worte, mit denen er sie warnen würde. Ich werde dich küssen.

Die Tür. Ein Ruf. Seine Mutter war da. 
Später kamen Polizisten. Sie nahmen Margit mit.

Den ganzen Sommer fuhr er zum Steinbruch, in der Hoffnung sie wieder zu sehen. Er spielte nicht mehr mit Sergeant Peters, das kam ihm kindisch vor. Den ganzen Sommer über dachte er daran, was gewesen wäre, wenn er sich eine Minute früher entschlossen hätte, sie zu küssen. Sie wusste, wo er wohnte. Vielleicht wäre sie gekommen, hätte er sie nur geküsst. Den ganzen Sommer über schien die Sonne und machte alles groß. Den ganzen Sommer über war er verliebt.