Donnerstag, 14. Februar 2013

Montagsjazz: My Name Is...


Das einzige, was heute abend tanzte, war der Staub unter den abgewetzten roten Sesseln, von den Schallwellen zum Hüpfen gebracht. Montags war nie viel los, in dem kleinen Jazzclub. Aber heute hatte die Montagsflaute ihren Tiefpunkt erreicht. Hinter der Bar stützte Resa ihren runden, blondgelockten Kopf auf die Hände. Ihre kugeligen Brüste dehnten das Feinripp eines weißen Unterhemds. Eine Sternstunde des Sexappeals, die genauso unbeachtet blieb, wie die Musik. In dem Tonstudio zwei Straßen weiter war wahrscheinlich mehr Stimmung als hier. Da, wo sie manchmal sogar richtig große Namen produzierten.
Auf der Bühne ein stinkender Teppich, der das Schlagzeug am Rutschen hindern sollte. Ein Wald aus glänzendem Gestänge: Teile des Drumsets, Notenhalter, Mikrofonständer, höhenverstellbare Hocker. Flügelschrauben, verchromte Gelenke, Gummifüße. Am Boden eine Schlangengrube aus schwarzen Kabeln, tausendfach von biernassen Schuhsohlen getreten. Vier Kerle da oben, tiefenentspannt. Rolf am Schlagzeug, Christoph am Saxofon, Steve am Bass und Stefan am Piano.
„Komm spiel heute ein Schlagzeugsolo“, sagte Christoph, um Rolf zu ärgern.
„Schlagzeug ist kein Soloinstrument“, sagte Rolf zum hundertsten Mal, ohne Melodie in der Stimme und durch zusammengebissene Zähne. „Meinetwegen ein paar Fours. Aber das wars.“ Nie wollte er Soli spielen. Rolf im weinroten Pullover. Rolf, der, auch wenn er rasiert war, einen grauen Bartschatten hatte, grau wie ein Stück Recyclingpapier. Rolf ohne Humor. 
Eine Nummer hatten sie schon gespielt, nach langem Warten. Irgendwann hatte Resa sie aufgefordert, anzufangen. Kippe im Mund hatte sie Bier gebracht und im Weggehen gesagt: „Und jetzt wird mal Musik gemacht.“ Oberste Coolnessregel für Musiker: immer so tun, als wolle man nicht spielen. Sich bitten lassen. Zeit lassen.
Aber jetzt das zweite Stück. Christoph war der Leader, ganz klar, schnippte den Rhythmus vor und dann bliesen sie den Watermelon Man. Christophs Hemd drei Knöpfe offen. Blitzende Uhr am Handgelenk. Das Publikum ignorierte sie. Das Publikum bestand aus vier amerikanischen College-Studenten, unter 21, in Deutschland berechtigt, Alkohol zu kaufen. Aus Horst, jeden Abend hier seit 1978, Gehirn in dieser Zeit in einer Bierflasche liegen gelassen. Und aus einer ungefähren Handvoll Musiker, genaue Anzahl schwankend um kommende und gehende Kompagnons und Freundinnen, positioniert am Stammplatz links vor der Bühne. Die warteten auf die Jam-Session. Wenn sie denn später spielen würden, unklar, Coolness-Regel. 
Auch wenn keiner guckte, gehört wurde es doch, und daher musste man oben gute Läufe spielen, es galt einen Ruf zu verteidigen. Christoph beendete sein Solo mit einem Nicken zu Stefan, der auch so gewusst hätte, dass er an der Reihe ist. Er spielte Herbie Hancocks Solo mehr oder weniger nach und verspielte sich nur selten. Routinequalität. Lange, kantige Glieder in Jeans und weißem Hemd. Wie eine Marionette über das Klavier geklappt. Nase passend: eckiger Zinken. Dann wieder die Strophe, auf Christophs Kommando hin. Die Jungs hätten auch im Proberaum sein können. Christoph bedeutete Steve, dass er dran war. Basssolo. Hopsendes Brummen, lustiger Melonenmann. Dann kamen die Fours. Schlagzeug, Saxofon, Schlagzeug, Piano, Schlagzeug, Bass und dann das ganze von vorn. Noch mal Strophe und aus. Sie ließen sich schon wieder Zeit bis zum nächsten Stück. Resa brachte Bier und Schnaps für die Amis. Vierte Runde. Baseballkappen und Poloshirts. Jetzt wurde doch noch ihre Sexiness bemerkt. Und kommentiert. „Shut the fuck up or I´ll kick your asses out of this place.“ Sie drückte ihre Zigarette im Aschenbecher des Amitischs aus und sie verstummten. Jeder der vier konnte sich vorstellen, wie sein Gesicht unter ihrem Absatz zigarettenfilterartig zerquetscht wurde. 
Und dann kam einer rein, der fiel auf. 
Ein alter Schwarzer. Im Anzug, graue Wolle, Hemd in der Farbe von Zahnpastawerbung, Krawatte dunkle Seide. Hut auf dem Kopf, Trenchcoat. Saxofonköfferchen in der Hand. Voll das Klischee, der Typ. Ein feiner alter Jazzer. Bluenote-Bildband Fleisch geworden. Umständlich setzte er sich auf einen Stuhl, ganz nah an der Bühne. Die Jungs spielten weiter, Night in Tunisia. Alter Mann sah etwas zu und sein Fuß wippte und das Gebiss wackelte im Takt und zeigte, dass Musik im Blut war. Resa kam zu ihm und was er sagte, veranlasste sie nicht zu Drohungen, sondern zu einem Schelmenlächeln. Sie brachte ihm Cola.
Die vier auf der Bühne weiter mit dem Standardprogramm. Gleiche Reihenfolge der Soli, wieder die Fours am Schluss. Nur Christoph jetzt noch offensiver in seiner Leaderrolle, dauernd Nicken und kleine Gesten mit dem Sax. Der Alte hatte es ihm angetan, der sollte wissen, wer Christoph war. Aber der Greis sah kaum hin, nur das Fußwippen bewies, dass die Musik bei ihm ankam. Er hatte Papiere aus seinem Köfferchen geholt und blätterete darin. Rechnungen oder Noten. Resa saß jetzt auf einem Barhocker, den Oberkörper halb über den Tresen gehängt, und schrieb etwas in ein Tagebuch. Mit der anderen Hand stützte sie den Kopf, eine Zigarette zwischen den Fingern bedrohlich nah am zerzausten Haar.
Als das Stück fertig war, stand der Schwarze auf und ging an die Bühne.
„Can I play with you?“, fragte er heiser. Eindeutiger Verstoß gegen die Etikette, denn die Jam-Session war erst später und jetzt spielte das Quartett, das Christoph-Quartett. Aber heute war sowieso kein normaler Abend und offenbar traute sich Christoph bei einem Schwarzen nicht, nein zu sagen. 
„No problem, come up“, sagte er. 
Der Alte holte sein Saxofon und erklomm mühsam die Bühne. Christoph sah nur zu. Stefan stand auf, um zu helfen. Der Alte sah sich nach einem Sitz um und bekam einen Hocker.
„What will you play?“, fragte der Alte.
„What can you play, man?“, fragte Christoph. Der Alte hob nur die Brauen.
„Do you know on green dolphin street, man?“, fragte Christoph.
Der Alte grinste. Gebiss hemdfarben. „Yeah, I know that one. Let´s play.“
Christoph schnippte sich einen und los. Sie spielten das Thema und gleich war klar, dass der Alte was konnte. Ein weicher, voller Sound, fast schon Coleman-Hawkins-Schule, aber dann wieder einige Schärfen drin, die sich gewaschen hatten. Christoph nahm sich das erste Solo und legte gut vor. Silberbänder in der Luft, die das Leiter-Rutschbahnspiel spielten. Rauf, runter, Akkordtreppengetrappel. Der Alte unterstüzte ihn immer wieder mit Fill-Ins. Jedesmal zog Christoph die Brauen streng zusammen. Was wollte der Alte eigentlich. Christoph spielte soliden Bebop und endete mit einem spektakulären Stakkato. Dann nickte er dem Alten zu, ein bißchen zu aufmunternd. Doch da hatte der sich schon eingeschaltet. Und er meldete sich mit einem Ton zu Wort, scharf wie Sandpapier, zugleich mit einem Oberton, einem Vogelsang, einem klaren Zwitschern, das beinahe zweistimmig klang. Den Sound kannte man doch. Das hatte er doch von irgendeinem der Meister geklaut, von wem doch gleich. Wessen Trademark kopierte er da? Und dann legte er los und schleuderte Grooves heraus und Harmonieketten, dass die Wände wackelten. Das war nicht normal. Wenn es hier in der Region einen alten Sack gab, der so spielen konnte, wieso kannten sie ihn noch nicht? Das war höchstes Niveau. Der Alte hielt sich nicht mehr ans Tempo sondern wurde schneller und drückte der Rhythmusgruppe einen neuen Swing auf. Nahm sich einfach den Beat und zog ihn an.
Moment mal, Moment mal, dachten Rolfs Augen, zwischen empört und panisch. Steve hatte den Takt des Alten aufgegriffen, und nun war es der Drummer, der hinterher musste. Der Alte beendete sein Solo. Christoph vergaß, seine überflüssigen Kommandos zu verteilen. Aber Stefan setzte auch von sich aus mit dem Piano-Solo an. Er spielte brav und gut. Aber sobald er mal etwas Interessantes läuten ließ, verstärkte ihn der Alte mit Appreggios und sparte nicht daran, kleine Rhythmusfiguren einzustreuen, die den verschärften Swing in Gang hielten. Christoph versuchte mit ihm mitzuziehen, aber was er spielte, war jetzt erstickt und schwach. Der Alte spielte immer schrägere Sachen und zwang Stefan dadurch, Harmonien zu nutzen, die gar nicht vorgesehen waren. All die vorgefertigten Solofragmente verloren an Gültigkeit und Stefan haute einfach raus, was ihm in die Finger zuckte. Das Ganze hatte nicht mehr viel mit On Green Dolphin Street zu tun. 
Die Musiker am Stammtisch vergaßen die Coolness. Acht Augen gebannt auf die Bühne. Ein Mund offen. Ein anderer flüsternd an einem Ohr. Selbst ein besoffener Ami blickte immer wieder auf. Die anderen drei hatten nur noch glasige Murmeln im Kopf, da kam nichts mehr an. Stadium Horst. Resa stand kopfnickend direkt an der Bühne und war für Bestellungen taub.
In einer Trotzreaktion begann Christoph mit einem zweiten Solo. Der Alte wollte Avant-Garde? Sollte er Avant-Garde kriegen. Christoph packte alles aus, was er hatte. Er verließ die Harmoniegesetze und überblies die Töne. Er quietschte und knarrzte und machte Geräusche wie ein Pharoah-Sanders-Imitator. Er legte richtig was vor. Pech gehabt. Sollte er mal nicht denken, dass er da dem Alten was voraus hatte. Der fing erst an. Zweites Solo alter Mann. Spielte Hochgeschwindigkeitsläufe von Coltraneschen Ausmaßen. Teile, die wie Wasserfarben ineinander liefen. Keine Töne, nur noch Strudel aus Sound, die verschwammen, geronnen, Blasen warfen. Schreie, Sirenen, Melodiewasserfälle. Die Jungs waren platt. Münder offen, Stirnen gerunzelt. Der Staub unter den Stühlen bildete kleine Hurricans, die sich wie Feuerteufel umtanzten. Einer vom Musikantentisch war jetzt aufgestanden. Resa hingegen hatte sich gesetzt, an einen Tisch, und notierte im Turbotempo Dinge in ihr Buch - Inspirationskick. Sie vergaß sogar zu rauchen.
Und dann spielte Steve ein Basssolo jenseits aller Grenzen. Es lief und lief und lief, wie Jimmy Garrison live in Japan. Immer wieder gab es Yeahs von dem alten Mann. Steve wuchs über sich hinaus. Und wie die Tinte auf Resas linierten Seiten Berge und Täler und Kringel und Wellen formte, weiter floss, Punkte setzte, weiter floss und kritzelte, krakelte, über Unebenheiten aus Holzmehl und Leim kratzte, Gedanken hinter sich herziehend, an langer Leine, bis sie verloren gingen, Reime stapelnd, Worte türmend, eine Bugwelle von Ideen vor sich, Ideen die noch kommen wollten und die von neuen Worten überholt wurden, im Inspirationsfeuer, das nur raus musste, das Blau auf Weiß, Tinte auf Papier, von den Neuronen zur Wahrheit des geschriebenen Wortes werden musste, so rumpelte der Bass immer weiter und trieb über den turbulenten Green-Dolphin-Fluss. 
Und schließlich war der Bass fertig und es kamen wieder die Fours. Resa ließ den verwschwitzten Stift fallen und zündete sich Eine an. Die Fours. Schlagzeugbreak, Solist… Aber was geschah? Rolf spielte weiter. Über die Breaks hinweg. Der Alte feuerte ihn an. Christophs und Stefans Versuche, die Strophe wieder zu spielen, verhallten, abgebrochen, weil der Alte Rolf mit Saxofonstößen zu einem Solo trieb, das sich gewaschen hatte. Rolf schrie über die Toms hinweg, die Augen gechlossen, den Kopf im Nacken. So etwas war noch nie geschehen. Rolf, der am liebsten mit Besen spielte. Rolf, der seine Sticks in einem Aktenkoffer transportierte. Rolf, der täglich die Schuhe putzte und nie ein Solo spielte. Schlagzeug ist kein Soloinstrument. Dieser Rolf schnarrte auf der Snare, polterte über die Tomtoms, ließ Becken krachen und hielt trotzdem den Beat. Pistolenschüsse die Snare. Chinaböller die Toms. Ein Fauchen, ein Schrei nach Freiheit, ein wildes Tier ohne Käfig.
Und während er immer weiter wirbelte, griff der Alte die Melodie wieder auf, führte sie alle zusammen zurück zum Refrain und unisono swingten sie die Delphinstraße entlang. Eine Coda und schließlich Ende. Sie hatten eine Dreiviertelstunde gespielt. Die Jungs schwitzten. Sie atmeten schwer. Sie sahen sich aus weiten Augen an. Christoph gab Zigaretten aus. Schweigend, wie Bergsteiger, die am Gipfel wortlos ihre Vesper teilen. Resa eilte zur Theke und zapfte. Sechs große Bier. Christoph-Quartett, alter Mann, Resa. 
Der Alte packte sein Saxofon ein. „Sorry guys“, sagte er. „I was just looking for a quiet place to play a little. Just some warmup for tomorrow. I´m in town for a recording, you know? Sorry guys, I shoulda told you. My name is Archie Shepp.“

Dienstag, 5. Februar 2013

Vom Flachmann für Penner: Gruppensex im Altersheim

Gruppensex im Altersheim

Voller Sorge bemerkte mein Großvater neulich Blut im Stuhl. Seitdem ist ihm vor jedem Gang bang. 

Vom Flachmann für Penner: X für ein O


X für ein O

Seit der Einführung des Rauchverbotes in Gaststätten sieht man an jeder zweiten Ecke eine "Raucherlounge". Im Interesse der Gesundheitserziehung verspüre ich ja stets den Drang, das „O“ durchzustreichen.