Mittwoch, 7. November 2012

9Komma81




Zwei Drittel sind gelb. Die anderen schwarz, silbern, grau. Und hier Schwarzweiße, mit blau-rotem Glitzern. Die Gelben blöken bei jeder Bewegung. Sie kriechen wie Lava, verklumpen, umfließen sich. Stillstand hier, Krauchen da, dann kurzes Rasen und wieder Stehen. Weiße und graue Quadrate, rechteckige Puzzleteile, verkantet, verschachtelt, gestapelt, gekippt. Flächen mit Kreisen und Höhlen, spitzenbewehrt. Geriffelte Schrägen, schwarze Kästen und Tunnelöffnungen, von Seesternen versperrt. 
Gerade hier unten wuselt es, zwischen dem Glitzern und Blinken. Wie kann es so bunte Muster geben, in einer asphaltfarbenen Welt? Wie die Bücher, die man anstarrt, bis Hologramme wachsen. Wie die Poster in Wohnungen, auf deren Dachgärten Cannabis gepflanzt wird. Wie die mikroskopischen Fotos von Zyten und Phagen und Blasten. Methylenblau. Eosinrot. Safraningelb. 
Ein Betonfluss mit Kristallen und dahinter, verspiegelt, Hände, die auf Münder schlagen, und aufgerissene Augen. Ein Strom aus Stein. Zerfließt zu grauen Schlieren. Betonniagara. Luft wie aus Wasserwerfen. Pfeifende Winde, die Staubnadeln tragen. 
Aber unten das gelbe Gewimmel. Und in jedem ein Mensch. Und jeder will irgendwo hin und ist dafür zu zahlen bereit. Das gelbe Blech umhüllt wärmendes Leder, die Heizung läuft, der Fahrer grüßt. Wer ein Taxi nimmt, hat ein Ziel. Wer ein Ziel hat, will leben. Stecknadelköpfe krabbeln durch den Stau. Ein Feuerwehrwagen teilt das Meer. Blau-rote Lichter verschmelzen.
Das Dach des Empire-State-Buildings ist mit einem Zaun geschützt. Ein Bolzenschneider lässt sich im Rucksack verstecken. 
Bäume machen grüne Filzkugeln aus ihren Wipfeln. Eine Schlange aus Menschenkieseln wartet auf Einlass. Ein Fahrrad hat sich als Büroklammer verkleidet und schlängelt sich hindurch. Der Bus ist ein weißer Riegel, wie ein Plastikteil auf Irrfahrt im Meer. Sonnenschirme sind Warzen, auf der faltigen Haut dieser Stadt. Das Hupen der Taxis stößt durch das Tosen. Bei jedem Spurwechsel, bei jeder Bewegung. Es liegt wie Konfetti über dem Brummen der Stadt. Die Taxis sprechen ein Morsealphabet. Menschen können es nicht verstehen.
Im rot-blauen Warnlicht ist man bemüht. Ein Stehen und Starren, ein Rennen und Holen, Funken, Winken, Parken. Mehr Autos, schwarz-weiß, Polizei. Mehr Feuerwehr, mehr Masse, mehr Mensch. Wollen sie ein Wasserbecken aus Blech und Uniformen bilden? Wollen sie ein Sprungtuch aus Blaulicht und Absperrband weben? 
Ein Muster aus Würfeln, gewunden und gestaut. Zwei Drittel sind gelb, der Rest schwarz, silbern, grau. Da mal ein blaues Auto, ein grüner Müllwagen dort. Eine Kette aus Blech. Eine Kolonie kriechender Wespen, gelb mit schwarzen Streifen, die weiße Laster und schwarze Limousinen mit sich schwemmt. Ein Setzkasten aus Dächern, Lüftungen und Schornsteinen. Da türmen sich Terrassen, Turbinen und Schächte und Spalten und Kies und schneeweiße Flächen, von Sonne gebleicht. Dazwischen grüne Tupfer aus Baum. Das ist schön.
Der Bolzenschneider fällt schneller als ich. Ist das überhaupt physikalisch korrekt? Neun Komma acht eins Meter pro Sekunde Quadrat. In einer Sekunde schlage ich auf.

Sonntag, 20. Mai 2012

Aus der Reihe Montagsjazz: Little Redhead


Heute waren die Amis los. Ein seltenes Ereignis. Die Wahnsinnigen. Die müssen eine Sondereinheit für Wahnsinnige haben. Oder vielleicht waren die längst frühberentet und nicht mehr im Dienst und hatten den Flug verpasst, zurück in die Heimat. Erst mal der General. Hustete wie immer ohne den Hauch von Anstand in sein Saxofon. Wenn es je einen Menschen gab, dem alles egal war, dann war es der General. Fehler? Fehlzeige. Keine Chance, dass ihn das juckte. Er spielte sein Zeug runter, wie ihm die Schnauze gewachsen war. Ich glaube, der hatte alles gesehen. Von den verrückten Amis war er der einzige Weiße. Blaue Augen quollen wie Quallen aus seinem schiefen Schädel. Ob er ein General war, keine Ahnung. Vielleicht war er auch Hausmeister.
In seinem Blick: Entrückte Eleganz. Die Eleganz von verbeulten Panzern. Die Eleganz von schlammverschmierten Stiefeln, die seit Vietnam nicht mehr geputzt worden waren. Wer im Schützengraben morgens die Handgranate zündet, dann daran sein Ei aufschlägt, um sie schließlich über die Schulter zu werfen, wer sich mit dem Rambomessser die Fußnägel schneidet, wer beim Dosenstechen das Loch mit der Luger in die Dose schießt, den jucken die Angebereien der Musikstudenten wenig. Wie sie die Rituale der großen Jazzer kopieren. Wie sie lässig ihre Kippen rauchen und zwischendurch verstohlen auf ihre Noten gucken, weil sie kein Solo aus dem Bauch heraus spielen können. Nein, den General juckt das nicht. Der spielt sich das Napalm aus der Seele. Der hört nur auf zu zittern, wenn das Saxofon seine Finger massiert. Der muss husten, wenn er nicht bläst. Während seine Kameraden noch versuchen, dem Song zu folgen und die Studenten an Bass und Piano verzweifelt Röntgenblicke auf ihre Songbooks schießen, spielt er einfach über alles weg. Die Harmonien fühlt er, irgendwie passt es. Oder auch nicht. Ist alles egal.
Die anderen zwei, das sind John und John. John sitzt am Schlagzeug. 150 Kilo schwarze Masse. Schwarze Materie. Und wo beim General nervöses Elmsfeuer hinter den Augen sitzt, die vage Gefahr, dass er aus seinem Saxofonkoffer ein Maschinengewehr holt und alles niedermäht, da ist bei John nur Pachydermenruhe. Ein stiller Humor, ein knappes Lächeln und ein Beat wie ein Herz. Das Herz weiß stets wie es schlagen muss und wenn du die Treppe hoch rennst, wird es schneller. So wird auch John schneller und langsamer, wie die Musik es braucht und die Studenten gucken blöd. Er feuert den General an, wenn er will und er schafft den Spagat, für die lokalen Jungs die Songstruktur zu halten und zugleich durch des Generals Spiel zu manövrieren.
John der Zweite ist auch viel zu alt um noch zu dienen - was machen die Jungs noch hier? Hager und groß. Afroschädel, Koteletten, Augenringe bis zum Kinn, Schnaps im Blut. Eine Schicht aus Mehltau ziert seine Kleider. John der Zweite singt. Wenn blonde Mädchen kommen und Schubidu hauchen, dann ist das schlimm. Wenn John singt, dann ist das gut. Er schreit Textfetzen wie James Brown. Ein Wort ist ein Akkord. Er erforscht es, bis er es von allen Seiten durchgenudelt hat, bis die Konsonanten klacken und die Vokale in Tremoli durch seine Zähne gerauscht sind. Was Coltrane mit Akkorden macht, macht John mit Worten. Und in einer in tausend Kriegseinsätzen mit Johnny dem Ersten geschulten Einheit feuert er seine Silben ab, schießt Salven zwischen das Sperrfeuer der Drums, dass der Funk brennt und die Leiber zucken.
Und die armen Musikstudenten, was sollen sie davon halten? Sie spüren, dass das authentisch ist. Sie spüren den groove. Und überhaupt, das sind Amis und vor Amis kriecht man respektvoll am Boden. Zu Amis sagt man: hey man! und spricht seinen Vornamen englisch aus. Aber diese Amis durchbrechen ihre Angeberregeln und sie halten sich nicht an Solozeiten und sie zeigen keinen Respekt vor den ranghöchsten Saxofonangebern, die in den Pausen immer ihr Halsband tragen, falls einer noch nicht gesehen hat, dass sie Hornbläser sind. Aber die Zuschauer stört das nicht, die wollen heiße Musik und heiße Musik wird geliefert.
Die Studentenstatisten wechseln, ein weißhemdiger Trompetenheini kommt und geht, der Bassmann wird älter. Am Rand steht einer, der mir auffällt, durch seine Unscheinbarkeit. Nie gesehen, den Typen. Kleiner, rothaariger Junge. Bisschen rundlich, bisschen blass. Mathematikstudentenaura. Warum fällt er mir auf? Er nickt im Takt und hört genauer zu, als die anderen. Er ist absorbiert, in der Musik. Mehr als einer sein dürfte, der seine Briefmarkensammlung digitalisiert.
Jetzt wieder Szenenwechsel. Christian unser Alphatier am Saxofon, neben dem General. Seidenhemd, blödes Bärtchen. Uih, der zeigt dem jetzt, wo es lang geht, unser Christian. Der wechselt jetzt gekonnt zwischen Melodielinie und Improvisation und dann streut er ein paar nette Dinger ein und dann spielt er sein Solo kunstfertig und schnell. John der Zweite nickt und ruft: Yeah! Denn was der Christian spielt ist nicht schlecht und es würde ihm nie einfallen, den weißen Bengel für seine Angeberei abzustrafen. Wenn gut gespielt wird, wird Yeah gerufen, denn die Musik zählt. Hierarchie haben die bei der Army genug.
Es ist brechend voll jetzt. Und die drei Amis machen auf der Bühne einfach keinen Platz. Jeder, der was zeigen will, muss zur Audienz zu ihnen und Schlagzeuger sind heute einfach nicht dran. Versuch mal hundertfünfzig Kilo vom Hocker zu schieben. So ziemlich jeder hat jetzt schon gezeigt, was er kann und sein Lichtlein entscheffelt. Jeder will mal give me five machen und hey man sagen. Heute sind die Amis da, heute muss man hoch auf die Bühne.
Der General beugt sich runter. Was gibt's? Er redet mit dem little redhead. Klein und dick und sommersprossig und halb so alt wie die Dienstjahre auf des Generals Konto. Was will der wohl? Nicken seitens des Generals und er ruft über die Schulter: Lester leaps in. Ach, und der Junge hat ein Köfferchen und das ist ein Saxofonkasten? Wie, will der spielen? Der ist noch nie hier gewesen. Was traut der sich? Er kommt hoch auf die Bühne. Ein glänzend poliertes Horn, nagelneu, gerade gekauft. Frisch angefangen zu lernen oder was? Erstsemester Musikschule? Nimm dich in Acht. Meisterbläser Christian ist auch dabei, so dass sie jetzt einen Triple-Saxofonsatz haben und da sind wir ja mal gespannt.
Lester Leaps in ertönt und der General bricht schon nach der dritten Note aus dem schönen Unisono aus und salpetert irgendwelche Eskapaden dazwischen. Christian will den Leader geben und phrasiert mutig um. Aber der Ton von dem Kleinen ist lauter. Und klarer. Und schwerer. Und größer. Hat der da irgendeinen Verstärker dran? Mit was für einem Volumen besetzt der hier den Raum? Noch die hintersten Ecken vibrieren von seinem Ton.
Nach zwei, drei Repeats gehen sie gleich in die vollen und Christian legt sein Solo vor. Der General unterbricht ihn an den absurdesten Stellen, aber egal. Christian will den Kleinen fertig machen, das wird schnell klar. Er macht große Lagensprünge und wirft schräge Noten um sich. Er ist warmgespielt und macht ganz schöne Hasenläufe. Hakenschlagen und Turbofüßchen, schnell, schnell, schnell. Das ist schon ordentlich. Das wird schwer, da mitzuhalten. Jetzt sind wir mal gespannt.
Peng. Der erste Ton fegt alles weg. Was macht der Kleine da? Diesen ersten Ton hält er schon mal ungefähr drei Minuten und man fragt sich, ob er da einen Blasebalg angeschlossen hat oder wo die ganze Luft herkommt. Was ein Statement. Hier bin ich. Dieser Dauerton ist laut und scharf und vibriert, wie er es will. Er vibriert im gottverdammten Takt. Und dann schleudert er die ersten Läufe ins Publikum. Hoch und runter und unter Verwendung jeder erdenklichen Harmonielehre. Was macht er da überhaupt? Er spielt ein Highspeedgewitter, Dauerfeuer aus einer Rotationskanone, zwölf Zylinder Super plus. Aber vor allem groovt er. Der klingt wie eine Mischung aus Michael Brecker und Bill Evans. Vollkommen funky plus dreidimensionale Graffittis. Jede Note dient dem Groove und nicht irgendeiner Nicklichkeit. Wenn es gerade passt, dann bläßt er eine Bluenote über fünf Takte. Der Anfang war noch nichts, dieser Mensch muss nicht atmen. Er hält den Ton, während der Beat unter ihm explodiert. Mit einer Gelassenheit und Beiläufigkeit, die Angst macht. Was ist das? Was zum Teufel ist das? Sein Horn glänzt so, dass ich sein Gesicht nicht sehe. Mit einem letzten omnipräsenten Dauerton beendet er sein Solo. Nach dem Stück verlässt er die Bühne und steht wieder mit hängenden Schultern am Rand. Nie war ein besserer Saxofonist in diesen Räumen. Und nie habe ich den kleinen Redhead wieder gesehen. Wahrscheinlich spielt er sonst nur in Montreux.

Sonntag, 15. Januar 2012

Montagsjazz: Die Jungs von Frankfurt

Der Bassist ist ein Strichmännchen. Lang und dünn und gebogen. Auf dem Pfeifenreinigerhals sitzt eine kreisrunde Kopfscheibe. An den weichen Handgelenken baumeln große runde Hände. Die hängen schlaff herunter in seinen Pausen beim Solo, wenn er nicht mehr weiter weiß. Denn sein Solo ist nichts als ein tropfender Wasserhahn. Scheiß drauf, er begleitet nicht schlecht. Er kann an- und abschwellen und mit Akkorden den Raum vergrößern. Aber dieser gelangweilte Blick. Dies Kaff ist nichts für die drei. Die sind zu cool. Die zeigen uns wie cool man ist, in der großen Stadt. Da sind sie her. Und spielen mit einem der Unseren. Unser Joe muss mit seinem Sax gegen sie anspielen.
Die sind „von Frankfurt“, wie uns der Drummer erklärt. Und spielen heute hier mit Joe. „Von Mainz.“ Von mir aus. Erst war es ja sauber und glatt und ohne Funken. Joe hat mitgespielt, kein Ding. Der Gitarrist war der Chef im Ring.  Hat alles ganz cool zusammengehalten und dann mit hühnerartigen Kopfbewegungen seine Soli abgeliefert. Schnelle Läufe, plastische Akkorde, alles schön und gut, aber nichts als ein Flickwerk. Schöne Sekunden, aber man meint, er habe die einzeln zu Hause geübt, in ein Archiv abgelegt und nun setzt er seine favorisierten Fingerübungen zu einem Puzzle zusammen.
Joe dann immer wieder das gute alte Reinrausspiel. Solo, Strophe. Er kann das gut mittlerweile. Er kann auch ohne Gefühl jetzt spielen. Aber ich warte auf sein wahres Ich. Die Basssoli gehen zum Glück schnell vorbei. Der Strichmann spielt ein paar Noten und lässt dann erst mal seine Fliegenklatschen hängen, um dumm aus der Wäsche zu gucken. Dann die nächsten paar Noten und so weiter.
Der Beat geht wie ein Uhrwerk und die Breaks kommen anstandslos. Der hat uns ja erklärt, wer sie sind. Ein Intelligenzbolzen mit Gefühl, einer der in der Küche sitzt und Wissen Preis gibt und Frauen gegenüber viel Verständnis zeigt.
Warum all die Gehässigkeit? Wegen des letzten Stücks. Mein Joe hat sich tapfer geschlagen. Ganz Jam jetzt, der Drummer rührt auf seinen Toms, die perfekt gestimmt sind, wahrscheinlich auf B-A-C-H und dann kommen Gitarrensphären und dieses letzte Stück vor der Session lässt sich gut an. Und mit Hühnernicken und Kniebeugen spielt der Saitenhalbgott nochmal seine schönsten Sonatetten und holt alles heraus und der Saal tobt sogar, weil er Loops spielt und lauter wird und die Leute um seine schnellen Finger wickelt. Ja, mir gefällt´s auch, weil er mit seinem Effektgerät einen Hall erzeugt, der die Gitarre mächtig klingen lässt und das sonst übliche Understatement dieser Saitenfrickeleien übertönt. Applaus und er zeigt ein Draculagrinsen. 
Und dann Joe. Jetzt ist sturmfrei. Climax und Laune. Die Regeln sind durch die Elektronik passé und jeder kann sein Ding zeigen. Bühne frei und wir wissen, dass Joe mehr kann als Bebop. 
Aber die Schweine spielen gegen ihn. Er macht immer wieder Anfänge und schlägt sich durch. Er spielt notgedrungen sein Profiprogramm, obwohl man ihm ansieht, da brennt es in ihm, etwas loszulassen, nach all den Yeahs und Jauchzern von eben. Doch die lassen ihn nicht richtig rein. Die grooven nicht, die drei. Joe ist wie ein Boot im Ozean. Er hält seinen Kurs und die Wellen schlagen gegen ihn. Er taucht unter, aber er lässt sich nicht seine Richtung nehmen. Immer wieder runzelt er die Stirn, immer wieder holt er schwer Luft. Er sieht aus als hätte er Kopfschmerzen, aber gibt nicht auf. 
Jetzt ist er oben auf, jetzt hat er Fahrwasser. Kurz. Dann rammt wieder sein Bug gegen die Wellen und versetzt ihm Schläge. Mit feinen Läufen behauptet er sich. Das herzlose Spiel der Gegner bändigt er mit klassischen Licks und langem Atem. Dabei will er doch singen, nicht atmen. Den Windhund laufen lassen und nicht eine Huskienummer abziehen. Hechel, hechel, Schlitten im Schnee. Die dreischwänzige Frankfurter Hundepeitsche schnalzt.
Und schon haben sie eine neue Waffe und werden schneller. Die HighHat swingt immer zügiger und die beiden Kumpanen steigen bereitwillig darauf ein. Genervt aber souverän meistert Joe auch diesen Stolperstein und die Geschwindigkeit gibt ihm sogar Kraft. Für einige Takte kann er einfach spielen, doch das lassen die Angeber nicht lange zu. Breakdown. Schön langsam, jetzt, nicht wahr, wer wird denn den Groove laufen lassen? Vielleicht sogar ein Zeichen, dass er aufhören soll. Mit einer mächtigen Bluenote packt Joe sich die drei noch einmal und kauft sich den Break und steckt sie in die Tasche und dann hat er keine Lust mehr und guckt sie an und ohne zu zögern fallen sie zurück in die Strophe. 
Ich applaudiere und der Rest folgt mir.
Schnell noch das Tröpfeln des Basses, das keinen interessiert und dann liefert der Drummer sein Solo ab, kaltschnäuzig und fehlerfrei, er hat jetzt alle Zeit der Welt und beste Bedingungen. Dann ist es vorbei und sie verlassen die Bühne. 
Das waren sie also, die Jungs von Frankfurt. Super. Und mit Seele gespielt hat wieder mal nur einer.

Samstag, 7. Januar 2012

Blinde Wut

Blinde Wut
Unangenehm, mit verbundenen Augen zu kämpfen? Ja, man schwitzt etwas unter dem Stoff, könnte schöner sein. So, wo ist er denn, der Bastard? Ich hör ihn schnaufen, auf 11Uhr. Macht der sich Mut damit? Ist der so in Panik, dass er so schnaufen muss? Der Boden ist krümelig, Kiesel und Sand und Staub. Den hört man gut. Ich rolle die Füße stark ab, um  Geräusche zu vermeiden. Wenn auch er wahrscheinlich gar nicht richtig hinhört. Hat er nie gelernt. Der Griff meines Messers ist aus Bakelit und fein geriffelt. Die Klinge ist kopflastig. Vorsichtig habe ich sie vor dem Kampf betastet. Sie ist scharf und spitz und wird gute Dienste leisten. Jetzt schreit er. Er macht sich Mut, der Arme. Ich schweige. Ich gehe leise nach rechts, um ihn herum. Er riecht nach Wäsche, die man feucht in den Schrank gelegt hat, und nach Tabak und Schweiß. So riecht er immer. Jetzt ist noch Angst dabei. Ist aber auch blöd, so mit verbundenen Augen zu kämpfen. Der Arme. Hätte er bloß nicht gewettet. Nicht mit einem Blinden. 
Ich ducke mich und hebe etwas Kies mit der linken Hand auf. Ich strecke den Arm weit nach links und werfe den Kies auf Bill. Dann mache ich schnell noch einen leisen Schritt nach rechts. Er brüllt und geht auf die Stelle los, an der er mich vermutet. Ach, ist er gefallen? Nicht mal geradeaus gehen kann der, ohne Sicht. Ich komme näher. Ich höre, dass er aufsteht und dass er mit dem Rücken zu mir steht. Das merke ich, weil seine Stimme jetzt anders klingt. 
„Komm her du, ich mach dich fertig!“, ruft er. Ich lache lautlos. Vor der ganzen Besatzung musste er wetten. Nur weil ich klüger bin als er, das hat er nicht ausgehalten. Da hat er seine körperliche Stärke rauskehren wollen. Da hat er gesagt, mich kann er fertig machen wenn er will. Klar, ich bin ja blind, habe ich da gesagt. Dich, hat er gebrüllt, dich kann ich noch mit verbundenen Augen kaputt machen. Klar, aber höchstens, wenn ich gefesselt bin, habe ich gesagt. Und schon kam es zu der Wette. Aufs erste Blut. Mit Messern. Beide kriegen die Augen verbunden. Ich habe auf beide bestanden, auch wenn ich sowieso nichts sehe. Sollte keiner hinterher sagen, es war nicht fair. 
Jetzt umkreisen wir uns. Ich umkreise ihn, er taumelt umher. Sein Schritt ist schwer. Sein Atem pumpt. Wenn er mich zu packen kriegt, lässt er mich nicht mehr los. Dann wird es gefährlich. Ich bleibe auf Abstand.
Schon immer haben wir uns gehasst. Weil ich klüger bin, kann er mich nicht ausstehen. Weil ich als Funker unschlagbar bin, selbst wenn ich blind bin. Er ist ja nur Maschinist. Ich sitze an der Quelle, jede wichtige Information geht über mich. Das kann er nicht ertragen. Und ich, ich hasse ihn. Weil er es mit meiner Schwester treibt. Und weil ich höre, wie er vor den anderen über sie redet. Mies redet, wie über ein Flittchen. Er denkt, ich bin auch taub, er vergisst, dass ich das mitkriege. Oder es ist ihm egal. Als Blinder zähle ich für ihn nicht. Über meine Schwester kann man reden, auch wenn ich dabei bin. Als wäre ich ein Tier, das nichts versteht. Ein Kind, das nichts machen kann. Wie ich ihn hasse. 
Mit lauten Schritten umrunde ich ihn jetzt, um ihn nervös zu machen. „Ey, mach bloß nicht das Tuch ab“, höre ich Mac rufen, „sonst wird es ein unfairer Kampf. Ich lass nicht zu, dass du nen Blinden angreifst, ohne die Binde!“ Also ist er richtig nervös geworden, wollte das Tuch runter nehmen. Ich immer schön um ihn rum jetzt. Und plötzlich bleibe ich stehen. Hui, ich spüre ihn ganz dicht, er schlägt nach mir. Hastig springe ich zurück. Da habe ich mich verschätzt, das war knapp.  
Das Messer ist kopflastig und baumelt lässig an meiner Hand. Meine Brust ist aus Wut. Der Boden knirscht. Wind weht ganz schwach. Die andern sind leise, schauen zu. Sie wissen, dass wir auf unsere Ohren vertrauen müssen. Bill prustet. Ich schleiche mich an. Vorsichtig strecke ich meine linke Hand aus. Ich höre, dass er stehen geblieben ist. Ich höre seinen Atem. Er weiß nicht, wie nah ich bin. Jetzt spüre ich die heiße Luft aus seiner Lunge auf meiner linken Hand. Ich rieche sein Haar. Da ist also sein Kopf. Dann müsste da seine Schulter sein. Dann müsste da sein Hals sein. Kehlkopf, kleine Mulde, Muskelstrang, Halsschlagader. Ich lasse die linke Hand fallen und greife nach ihm. Ja, das ist seine Schulter und hier ist sein Schlüsselbein. Die Rechte beschreibt einen Bogen von oben. Die Spitze des Messers fällt. Kehlkopf, Mulde, Halsschlagader. Ein schneller Schnitt, zwei Zentimeter tief, drei lang. Schon baumelt das Messer wieder lässig an der Seite. Schon sackt er zusammen. Ich trete zurück, ja wo ist er denn? Tastend und stolpernd spiele ich den Dummen. Ich wollte ihn nur verletzen, es war doch nur eine Wette. Ich bin blind, ich wusste doch nicht, wo ich ihn treffe. Nur ein Schnitt, ganz oberflächlich, nur eine Wette. Ich bin doch blind.